Besondere Kinder - ein Interview mit Stefanie

Der Gesundheitszustand unserer Kinder beeinflusst unser gesamtes Leben. Viele Menschen erleben eine komplikationslose Schwangerschaft. Und auch wenn sich Bedenken und Ängste durch die gesamte Schwangerschaft durchziehen, dürfen heutzutage viele Kinder gesund zur Welt kommen. Doch es gibt auch jene Kinder, die mit einer Beeinträchtigung oder Behinderung ins Leben steigen. Und das, obwohl deren Eltern nichts anders gemacht haben, als diejenigen, die ein gesundes Kind in den Armen halten.

 

Jede Schwangerschaft ist einzigartig, so wie jedes Leben und jedes Kind auf seine Art einmalig ist. Und zu jeder Schwangerschaft gehört eine Geschichte. 

Hier erzählt uns Stefanie Steiger ihre Geschichte mit ihrem Sohn Nael, welcher mit einer körperlichen, sowie geistigen Behinderung zur Welt kam. Sie nimmt uns mit auf ihre persönliche Reise von der Diagnose während der Schwangerschaft bis zu ihrem heutigen Normalzustand. 

 

Es handelt sich hier um ein sehr bewegendes Interview und Stefanie gibt gegen Ende auch ihre Kontaktdaten an, um Eltern in einer ähnlichen Situation zu unterstützen. Wir bitten um einen achtsamen und liebevollen Umgang, auch wenn sich ihre Geschichte vielleicht von eurer unterscheidet. Wir danken herzlich für ein respektvolles Miteinander und freuen uns, die Geschichte von Stefanie mit euch zu teilen.

 

Liebe Steffi, euer Sohn kam mit einer geistigen Behinderung und einer Herzerkrankung zur Welt. Wenn du an eure gemeinsame Geschichte zurückdenkst, wo hat diese begonnen?

Unsere Geschichte begann bereits früh in der Schwangerschaft. Schlechter Ersttrimestertest, auffällige Nackenfalte, aber eine Plazentapunktion ohne Befund. Schliesslich wurde in der 19. Schwangerschaftswoche der Verdacht auf Herzfehler von meiner Frauenärztin geäussert. Der Termin beim Kinderkardiologen am nächsten Morgen hat bestätigt, dass unser Baby mit nur einem halben Herzchen geboren werden würde. Hypoplastisches Linksherzsyndrom war die Diagnose. 

 

Wie haben sich diese Diagnosen angefühlt? Wie ging es dir damals?

Es ist nicht wirklich beschreibbar, was einem nach einer solchen Diagnose alles durch den Kopf geht. Statistiken zur Todesrate. Operationsvarianten. Die Möglichkeit zum Spätabbruch der Schwangerschaft. Und gleichzeitig habe ich die Tritte von Nael gespürt und gewusst, dass er kämpfen will. Und, dass wir das an seiner Seite tun werden! 

 

Konntest du mit jemandem darüber sprechen? Wem hast du dich anvertraut?

Wir waren von den Ärzten sehr gut betreut und auch von unseren Familien und Freunden haben wir viel Unterstützung bekommen. 

 

Wie war eure Zeit nach der Geburt? Musste euer Sohn weiterhin überwacht werden?

Als klar war, dass Nael schwerst herzkrank geboren wird, wurden wir während der restlichen Schwangerschaft engmaschig überwacht und die Geburt wurde in Zürich geplant. Neonatologen und Kardiologen waren bereit, um ihn sofort nach der Geburt mit lebenserhaltenden Sofortmassnahmen zu versorgen. Fast ein Jahr lebten wir mit Nael im Kinderspital. Drei grosse Operationen am offenen Herzen und viele weitere kleinere Eingriffe folgten in den ersten drei Lebensjahren. Mehr als einmal war nicht klar, ob Nael die Nacht überlebt. 

Bereits in den ersten Lebenstagen wurde Nael durch eine Genetikerin untersucht. Seine körperlichen Behinderungen und die typischen Gesichtszüge legten den Verdacht auf das Mowat-Wilson-Syndrom nahe – dies hat sich dann auch bestätigt.   

 

Können sich die Konditionen noch verändern? Besteht bei der Herzerkrankung ein gesundheitliches Risiko?

Nael ist palliativ operiert, sein Herz lässt sich nicht „flicken“. Wie lange es schlagen mag, das kann niemand vorhersehen. Vielleicht sind es Monate, vielleicht Jahrzehnte. Viele Menschen mit einem hypoplastischen Linksherz brauchen wieder Operationen oder irgendwann auch ein neues Herz.

 

Wie zeigen sich diese Beeinträchtigungen bei eurem Sohn? Wo ist er allenfalls eingeschränkter als andere Kinder?

Nael ist heute 10 Jahre alt, aber motorisch und kognitiv auf dem Stand von etwa 3 Jahren. Er hat eine geistige Behinderung, Epilepsie, benötigt mehrmals täglich Medikamente für sein Herz, kann nicht sprechen und läuft nur kurze Strecken, bevor er erschöpft ist. 

 

Wie sieht euer gemeinsamer Alltag aus? Was macht ihn speziell?

Inzwischen, nach 10 Jahren, ist unser Alltag wieder normal. Anders normal halt.

Nael braucht viel mehr Betreuung und muss immer beaufsichtigt werden. Er hat viele Arzt- und Therapietermine, aber ansonsten leben wir unser Leben wie alle anderen auch!

 

Inwiefern hat sich euer Alltag vielleicht anders entwickelt als ihr es euch vorgestellt habt?

Während andere Kinder in Naels Alter immer selbständiger werden oder auch seine grössere Schwester immer öfter allein mit Freundinnen unterwegs ist, bleibt Nael weiterhin auf andauernde Betreuung und Unterstützung angewiesen. Ich kann nicht rasch allein in den Volg oder die Schwester ins Training fahren. Ich muss zu Hause sein, wenn der Schulbus ihn von der Schule zurückbringt. Ich muss all seine Arzt- und Therapietermine unter einen Hut bringen. Ich muss IV-Anträge schreiben, Berichte einreichen und Einsprachen organisieren. Der mental load ist enorm und er wird nicht weniger durch mehr Selbständigkeit des Kindes, sondern gefühlt immer grösser.

 

Wo musstet ihr/müsst ihr umdenken?

Wir sind viel und gerne unterwegs und seit Nael fliegen/reisen darf, auch oft im Ausland. Durch die eingeschränkte Mobilität müssen wir vorgängig immer viel recherchieren, was machbar ist mit Rehabuggy, damit es vor Ort nicht zu Enttäuschungen kommt. 

Unsere Kinder sind zwar nur 2.5 Jahre auseinander, die Bedürfnisse sind aber komplett unterschiedlich. Dies gilt es in der Freizeit oder den Ferien aufzufangen. Manches geht nicht, sehr vieles ist aber möglich. Man muss einfach offen sein.

 

 

Wie hat euer Umfeld auf die Diagnosen eures Kindes reagiert?

Wir sind von Anfang an sehr offen mit Naels Behinderungen umgegangen und haben mehrheitlich positive Reaktionen erhalten. Nael hat im Dorf die Kita besucht, Kinder und Eltern kennen ihn und so gab es auch in der Schule der grossen Schwester nie blöde Kommentare. Dafür bin ich sehr dankbar.

 

Das Umfeld ändert sich aber auch durch solche Diagnosen. Einige Menschen gehen, andere kommen dazu.  

 

Durch die langen Spitalaufenthalte lernt man andere betroffene Familien kennen, die genau wissen, was man gerade durchmacht.

 

Wo wurde euch geholfen? Wie wurdet ihr unterstützt und von wem?

Medizinisch/fachlich wurden wir immer super begleitet von unserem Spital und dem Kinderspital Zürich. Als wir nach Hause durften, wurden wir von der Kinderspitex und einer Heilpädagogin unterstützt, bald kam dann auch Physio dazu. Für sich selber bleibt in den ersten Jahren nach solchen Diagnosen oft gar keine Zeit. Man muss funktionieren, das Leben muss irgendwie weitergehen. Mir hat damals der Austausch mit anderen Betroffenen sehr geholfen.

 

Wie sieht die staatliche Unterstützung aus?

Alles, was medizinisch indiziert ist, aufgrund Naels Herzfehler oder der Epilepsie, wird von der IV finanziert. Sein Syndrom allerdings ist nicht IV-anerkannt und wir kämpfen immer wieder für Hilfsmittel, Medikamente oder Therapien, die niemand übernehmen will. Das braucht so viel Kraft, Zeit und Nerven. 

 

Gibt es Menschen, die eurem Kind aufgrund seiner Behinderung und Erkrankung seinen Wert oder seine Lebensberechtigung absprechen? Wie begegnet euch diese Form der Ablehnung?

Es ist selten, aber ja, ich wurde schon gefragt, warum wir nicht einfach abgetrieben hätten… 

 

Wie reagierst du auf solche Situationen?

Es ist öfter der Fall, dass es Vorwürfe an mich sind. Zum Beispiel, wieso ich arbeite und nicht „zu Hause bei meinem behinderten Kind“ bin. Damit kann ich umgehen. Das kommt von Menschen, die mir nichts bedeuten und mit denen ich mich nicht weiter umgebe. Wenn jemand mein Kind direkt angreift, dann ist es wohl tatsächlich eine der wenigen Situationen, in denen ich nicht mehr weiss, was ich sagen soll.  

 

Was macht dieser Satz mit dir? „Hauptsache, das Kind ist gesund.“ Welcher Satz wäre für dich richtig?

 

Hauptsache geliebt. Hauptsache glücklich. Es gibt viele gesunde Kinder, die unglücklich oder ungeliebt aufwachsen müssen. Nael wird nie gesund sein, aber er ist glücklich und er wird von so vielen Menschen geliebt! 

 

Was wünschst du dir für dein Kind?

Ich wünsche mir, dass Nael immer von Menschen umgeben ist, die ihn lieben. Und dass er weiterhin so glücklich und fröhlich ist!

 

Was wünschst du dir von der Gesellschaft?

Ich wünsche mir echte Inklusion, nicht nur auf dem Papier. Dass sie gelebt wird und nicht nur darüber gesprochen. Dass die Gesellschaft die Menschen sieht und nicht nur die Behinderung. Dass Behinderungen nicht einfach mit Leid und Defiziten gleichgesetzt werden. 

 

Was hast du auf eurer gemeinsamen Reise und durch deinen Sohn gelernt? Wie hast du dich verändert?

Nael hat mich vieles gelehrt. Die kleinen Dinge wertschätzen. Geduld haben. Niemals aufgeben. 

 

Nach Naels Geburt wurde uns gesagt, dass er nie sitzen können wird. Nicht laufen. Nicht reden. Aufgeben war keine Option. Das Leben hat uns herausgefordert, in so manchen Belangen, und es hat uns verändert. Dinge wurden unwichtig, Prioritäten haben sich verschoben. Es war und ist oft schwierig, aber jede Träne und jeder Kampf lohnt sich. Heute bin ich stolz auf alles, was wir, was Nael, erreicht hat.

 

Was würdest du rückblickend anders machen?

Nichts. Wir alle machen Fehler, das gehört zum Leben dazu. Aber unsere Erfahrungen und Erlebnisse machen uns zu dem, was wir heute sind. 

 

Was möchtest du anderen Familien raten, die sich in einer ähnlichen Situation wiederfinden?

Eine Behinderung ist nicht das Ende, es ist der Anfang von etwas Neuem. 

Es wird schwierige und traurige Momente geben. Dunkle Wolken, von denen man nicht glaubt, dass sie jemals wieder vorüberziehen. Aber es wird auch wieder anders werden. Es wird wieder Lachen und Unbekümmertheit geben. Lebensfreude und Glück.  

 

Aufgrund all euren Erfahrungen hast du deinen eigenen Onlineshop aufgebaut. In diesem bietest du funktionelle Produkte an, die Kinder und Eltern in ähnlichen Situationen unterstützen können. Was möchtest du uns über deinen Shop erzählen?

Als Nael geboren wurde, mussten Kleider plötzlich nicht mehr einfach nur herzig sein, sondern funktionell. Anfänglich waren da Kabel, Sensoren und Sauerstoffschläuche, die trotz kuschligem Pyjama zugänglich sein sollten. Später waren es Jeans, die auch über die Orthesen passen. Badehosen brauchen auch im Schulalter eine eingearbeitete Windel, Trinkbecher sollen auslaufsicher sein. Oft haben wir improvisiert, selber angepasst, lange nach Möglichkeiten gesucht, die nicht nur funktionell, sondern auch schön sind. Und so haben wir über die Jahre ganz viele Produkte gefunden, die wir heute auf www.besonderekinder.ch anbieten – Hilfsmittel im Alltag, Bekleidung, inklusive Spielsachen und viele weitere Produkte

 

Du betreibst auch sonst Aufklärungsarbeit. Was sind deine wichtigsten Botschaften?

In den sozialen Medien blogge ich seit einigen Jahren über unser anders normales Leben. Über unseren Alltag. Herausforderungen. Schwierigkeiten. Schöne Momente. Inklusion und fehlende Inklusion. 

 

Ich möchte damit zeigen, dass das Leben auch mit einer Behinderung weitergeht und vieles möglich ist, aber auch, was für Schwierigkeiten Familien mit Kindern mit Behinderungen im Alltag immer wieder begegnen. 

 

Wie wünschst du dir, dass sich die Welt zugunsten deines Kindes verändert?

Ich wünsche mir für alle Kinder, dass die Welt mehr Toleranz und Inklusion lebt. Dass ein Kind anders sein darf, ohne in eine Schublade gesteckt zu werden. Dass es sein darf, wie es ist, weil es perfekt ist, so wie es ist, auch wenn es nicht dem Ideal der Gesellschaft entspricht.

 

Und was wünschst du dir für dich persönlich?

Ich wünsche mir noch viele spannende Jahre mit meinen Kindern und dass wir unseren Weg mit Nael auch durch die Zeit des Erwachsen-Werdens gut meistern können. 

 

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Wir leben in einer Zeit, in der eine Schwangerschaft in regelmässigen Schritten kontrolliert und begleitet wird. Wir können beispielsweise unsere Blutwerte analysieren und Defizite entsprechend ausgleichen. Wir können auch unsere Lebensumstände an die Belastbarkeit der Schwangerschaft anpassen. 

Doch auf so vieles haben wir keinen Einfluss. Das ist die Eigenart der Natur, sie hat ihre eigenen Regeln. Sie ist wertfrei und neutral. So wie wir nicht beeinflussen können, wie unser Kind aussieht, können wir auch auf die Entwicklung des Kindes im Mutterleib, nur bedingt Einfluss nehmen. 

Aber eines können wir beeinflussen. Wir können steuern, wie geliebt sich unsere Kinder fühlen, wie geborgen und aufgehoben sie bei uns sind. Wir können ihre Einzigartigkeiten hervorheben und sie in ihrem eigenen Sein bestärken, so wie sie sind. Darauf haben wir Einfluss, als Eltern und als Menschen. 

Stefanie Steiner, Mama von Nael

Hauptsache geliebt, Hauptsache glücklich, so formuliert Stefanie den Satz „Hauptsache gesund“ für sich um. Wenn wir unseren Kindern schon einen Stempel aufzwingen, warum dann nicht den Stempel der Liebe. 

 

Liebe Stefanie, danke dir von Herzen für den Einblick in deine sehr berührende Geschichte.

 

Stefanie Steiner ist Geschäftsführerin von www.besonderekinder.ch. Sie hat zwei Kinder, eines davon mit einer körperlichen und geistigen Behinderung. Auf Instagram schreibt sie als steffi_herzueberkopf (Link: https://www.instagram.com/steffi_herzueberkopf/) über ihr anders normales Leben mit einem Kind mit Behinderung.

 

Teile die Geschichte von Nael! 

Anna

Anna, bereits Mutter einer aktiven Hundedame, wurde nun mit 31 Jahren auch das erste Mal Mama eines kleinen Menschleins. Zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Schützlingen erforscht sie voller Freude das Leben. Sie liebt Worte, gutes Essen und wenn es draussen nach Schnee riecht. Wenn sie gerade nicht schreibt, schläft sie.